Seit 1989 Solo-Bratschistin im Philharmonischen Staatsorchester Hamburg, daneben gefragte Solistin, Kammermusikerin und Hochschul-Dozentin: Naomi Seiler ist ein fester Bestandteil des Hamburger Musiklebens. Im September geht sie mit dem Staatsorchester und Kent Nagano auf Tournee durch Südamerika, wo sie als Solistin gemeinsam mit dem Cellisten Gautier Capuçon in Richard Strauss‘ „Don Quixote“ zu hören sein wird. Im Interview spricht sie über die Herausforderungen der anstehenden Tournee, Glücksgefühle beim Unterrichten und die Frage, warum sie abseits der Bühne das Abendkleid gerne mal gegen Latzhose und Turnschuhe tauscht. Dafür empfängt uns die Musikerin mit japanisch-bayerischen Wurzeln in ihrem Haus nahe Hamburg.
Frau Seiler, ich bin etwas überrascht: wenn ich mir Ihren Garten anschaue, sehe ich hochgewachsene Rhododendren, einen Rasen, um den Sie mancher beneiden würde, und eine Menge Rosen in den schönsten Farben. Ist das der Garten einer Musikerin oder ist an Ihnen in Wahrheit eine Gärtnerin verloren gegangen?
Für mich ist mein Garten der absolute innere Ausgleich. Ich kann mich einfach in ein Beet knien, Unkraut zupfen oder an meinen geliebten Rosen schneiden. Als Musikerin auf der Bühne zieht man ein Abendkleid an, schminkt sich, die Haare werden hergerichtet. Man schlüpft in eine bestimmte Rolle. Aber wenn ich in meinem Garten bin, ziehe ich eine Latzhose an, wühle in der Erde, und da ist es völlig egal, wenn ich mich total schmutzig mache.
Braucht man als Musiker manchmal einfach seine Ruhe?
Ganz ruhig ist es ja nie. Hier im Garten höre ich die Vögel oder den Rasenmäher meines Nachbarn, aber ich höre keine Musik. Nichts, wo mein Fokus so ganz komprimiert ist. So kann ich emotional runterfahren und meine Gedanken schweifen lassen. In einem Orchester ist es manchmal wirklich laut. Hier im Freien wird das Gehör dann wieder auf Normalmaß eingestellt.
Sie spielen ja nicht nur im Orchester, sondern sind auch als Kammermusikerin und Solistin unterwegs. Daneben unterrichten Sie an der Hamburger Musikhochschule. Was reizt Sie an der Arbeit mit den Studenten?
Am liebsten möchte ich gerne jedem einzelnen vermitteln, dass die Bratsche das mit Abstand schönste Instrument ist. Und ich hoffe, meine Studenten gehen glücklicher aus dem Unterricht heraus, als sie hineingekommen sind.
Woran merken Sie, dass Ihre Studenten glücklich sind?
Die Studenten haben sich auf den Unterricht vorbereitet, geübt und wollen ihre Interpretation optimal präsentieren. Wenn sie dann auf Grenzen stoßen und wir gemeinsam daran arbeiten, kommt manchmal plötzlich ein glückliches Strahlen in ihre Gesichter. Da hat es einfach „klick“ gemacht, weil sie sich von einem Problem befreit haben und verstanden haben, worauf es ankommt. Dann weiß ich, die Arbeit hat sich wirklich gelohnt, für den Studenten und natürlich auch für mich. Das ist eigentlich das schönste Geschenk, das man als Lehrer bekommen kann.
Hatten Sie als Studentin selber solche „Klick“-Erlebnisse?
Ja (lacht). Als ich an die Hochschule in Freiburg kam, schlug mir mein damaliger Professor vor, dass ich etwas von Hindemith spielen sollte. Ich sagte zu ihm: „So modern?“ Da hat er mir ziemlich die Leviten gelesen. Für mich war Hindemith modern, für ihn fing die Bratschenliteratur da überhaupt erst an. Da hat es geklickt.
Erleben Sie heute als erfahrene Musikerin immer noch solche „Klicks“?
Natürlich. Ich sollte zum Beispiel einmal eine Bach-Sonate im Konzert spielen und hatte mich natürlich gut vorbereitet. Aber ich dachte, ich könnte sie mal meiner jüngeren Schwester Midori vorspielen. Die ist ja eine Barock-Spezialistin. Und so fing ich an zu spielen, war mit mir eigentlich zufrieden, bis sie mich unterbrach und fragte: „Halt, wie soll der erste Ton denn für dich klingen, wie willst du ihn gestalten, welche Aussage soll er haben?“ Zwei Stunden experimentierten wir nur an den ersten vier Takten – mein Wissenshunger ist dann unersättlich. Sie hat mir eine neue Welt aufgemacht und gezeigt, wie barocke Musik in ihrem Ursprung funktioniert. Da hat es richtig „klick“ gemacht.
Von Schumann stammt der vielzitierte Übe-Leitsatz „Es ist des Lernens kein Ende“…
Das stimmt absolut. Wenn ein Musiker glaubt, er ist an seinem Höhepunkt angekommen, kann es eigentlich nur noch abwärts gehen. Das habe ich selber zum Glück noch nie erlebt. Auch wenn meine Kollegen oder mein Partner sagen „Du warst echt phänomenal, es war großartig“, finde ich immer noch irgendetwas, was ich besser machen könnte.
Welche musikalische Herausforderung steht für Sie als nächstes an?
Ich werde im September mit meinem eigenen Orchester auf Tournee nach Südamerika gehen. Den „Don Quixote“ jeden Abend optimal abzuliefern heißt, 130 Prozent an Kraft und Konzentration zu investieren.
Auf der Tournee spielen Sie das Stück an vier Abenden in vier Städten, davor schon in Hamburg. Braucht man eine gewisse Routine, um ein Stück perfekt abzuliefern?
Für mich ist Routine ein Polster, das mir eine Art von Sicherheit gibt. Zu wissen, man hat das Stück so oft geübt und gespielt, dass es mich selbst dann nicht aus meiner Konzentration trägt, wenn mir auf der Bühne zum Beispiel der Schuhabsatz bricht. Diese Form von Routine finde ich sehr beruhigend. Und das, was dann auf diese Routine dazu kommt – Spontanität, Fantasie und Spielfreude – macht den Abend schlussendlich zu einem besonderen Ereignis.
Welche Rolle spielt das Publikum für einen gelungenen Konzertabend?
Eine sehr große. Wenn man in die Musik eintaucht und seinen Emotionen freien Lauf lässt, könnte man meinen, es wäre egal, welches Publikum im Saal sitzt. Von der Bühne aus sieht man das Publikum meistens auch gar nicht, weil der Saal abgedunkelt ist. Aber für mich persönlich ist es sehr wichtig und besonders schön, wenn da jemand sitzt, den ich kenne. Damit habe ich dann einen ganz persönlichen Bezug zum Publikum und sage mir: „Ich spiele heute speziell für dich.“
Hat man einen besonderen Kontakt zum Publikum, wenn man in einem festen Ensemble wie dem Staatsorchester spielt?
Absolut. Es gibt zum Beispiel ein Ehepaar, das seit bestimmt zehn Jahren ein Abo in der ersten Reihe der Laeiszhalle hat. Wenn ich auf die Bühne komme, begrüßen wir uns mit einem Kopfnicken. Und wenn er mal alleine kommt, dann frage ich in der Pause nach, ob es seiner Frau auch gut geht. Solisten dagegen, die von Stadt zu Stadt reisen und ständig vor fremdem Publikum spielen, haben diesen Bezug nicht und sind viel einsamer, denke ich.
In Südamerika reisen Sie selbst als Solistin von Stadt zu Stadt. Und zum ersten Mal treten Sie in dieser Funktion mit Kent Nagano am Pult auf. Spornt Sie das an?
Für uns Orchestermusiker ist er natürlich unser Chef. Ich habe unglaublichen Respekt vor ihm. Als Solist muss man dem Dirigenten aber auf Augenhöhe begegnen, was mein japanisches Blut in diesem Fall vielleicht ein wenig schwierig macht. Es ist für mich eine Herausforderung, ihm auch zu genügen.
Wie war Ihre Reaktion, als Sie von dem Projekt erfahren haben?
Vor einem Jahr rief Kent Nagano an und fragte, ob ich den Solopart übernehmen würde. Da ich mutig bin, Herausforderungen anzunehmen, habe ich natürlich ja gesagt. Und dann geht man in sich und denkt: „Mensch Mädel, schaffst du das?“ Es kommt ja auch dieser große Solist, Monsieur Capuçon, und ich möchte natürlich auch neben ihm als gleichwertige Künstlerin bestehen. Aber dann kommt so ein Energieschub von innen, der sagt: „Klar schaffe ich das!“ Mit solchen Musikern zu spielen ist, als dürfte man auf einer Admirals-Cup-Yacht segeln.
Ein sehr interessanter Vergleich…
Ich bin als Kind tatsächlich sehr gerne gesegelt. Sehr zum Ärger meiner Mutter, weil das ja nun wirklich auf die Hände geht. Heute verkneife ich es mir.
Muss man als Musiker hart zu sich selbst sein und auf so etwas verzichten?
Mir ist einfach bewusst, welche Verantwortung ich meinem Beruf gegenüber habe. Früher habe ich auch sehr aktiv Volleyball gespielt, zweite Liga, und war eine leidenschaftliche Skifahrerin. Aber heute bin ich vorsichtig. Wenn ich mir meine Hände ernsthaft verletze, ist es einfach mit meinem Beruf vorbei. Das ist Verzicht für die Kunst. Aber wo immer ich Wasser sehe, juckt es mich noch immer unglaublich in den Fingern, in eine Jolle zu steigen und diese Natur-Kraft des Windes zu spüren, die man aufbringen muss, um ihm zu trotzen.
Ab 2017 werden Sie öfter mal am Wasser stehen, denn dann wird die Elbphilharmonie eröffnet und das Staatsorchester wird natürlich auch dort zu hören sein. Kitzelt es Sie da auch schon in den Fingern?
Wir sind natürlich alle sehr gespannt, wie es am Ende wirklich klingt. Meine Erwartungen an die Elbphilharmonie sind sehr hoch. Ich hoffe, dass wir auf die Bühne gehen und denken: „Wow, das Warten hat sich gelohnt“. Wenn man spielt und sich vom Saal und natürlich auch vom Publikum getragen fühlt, ist das ein absoluter Wohlgenuss
Macht es dann auch „klick“?
Nein (denkt nach). Es ist mehr wie ein warmer Schauer.
Das Gespräch führte Hannes Wönig
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