Jocelyne Fillion-Kelch stammt aus einer Musikerfamilie aus Montréal und ist seit 1983 Piccoloflötistin beim Philharmonischen Staatsorchester Hamburg. Sie lebt auf dem Land. Neben ihrer Leidenschaft für Musik, Natur und Tiere engagiert sie sich für wohltätige Zwecke. Im Interview blickt sie zurück auf viele musikalische Höhepunkte und verrät, dass sie sofort verstand, was Kent Nagano mit dem „Hamburger Klang“ meint.
Sie sind Piccoloflötistin, spielen im Orchester aber auch die Querflöte. Ist das Piccolo-Spiel anders?
Mein Piccolo ist im Gegensatz zu meiner goldenen Querflöte aus Edelholz. Die Griffe sind oft anders. Alles Gespielte sind hörbare Soli. Einerseits ist die Klangfarbe in der tiefen Tonlage besonders ausdrucksvoll, andererseits verstärkt das Piccolo in der hohen Lage den Rhythmus im Orchester. Ich mag diesen direkten Klang. Neben der normalen Querflöte spiele ich die Alt- und die Bassflöte sehr gern.
Sie stammen aus Montréal, der Stadt, in der auch Kent Nagano seit vielen Jahren einen Chefdirigentenposten innehat. Haben Sie noch Verbindungen in Ihre alte Heimat, kannten Sie Kent Nagano schon aus Montréal?
Kanada besuche ich regelmäßig. Für mich war, ist und bleibt Montréal meine Heimatstadt. Schon im Trudeau-Airport sehe ich Kent Nagano auf riesigen Plakaten. Er sorgte für künstlerische und ökonomische Stabilität beim Orchestre Symphonique de Montréal. Ich erlebte ihn dort sehr oft in Konzerten und war glücklich, als ich erfuhr, dass er auch in Hamburg unser Chef wird. Für mich schließt sich damit ein Kreis, wie auch mit Georges Delnon, dessen Mutter Juliette Bise die Gesangslehrerin meiner Schwester in der Schweiz war.
Wie war es damals als junge Musikerin nach Hamburg zu kommen?
Nach Bern und Oldenburg kam ich mit 26 Jahren nach Hamburg. Als einzige Frau in der Holzbläsergruppe, das war eine neue Erfahrung für mich. Meine erste Vorstellung war „La Traviata“ und ich erlebte zum ersten Mal den „Hamburger Klang“, den Kent Nagano als so unverwechselbar und einmalig beschreibt, und ich wusste, dass ich in diesem Orchester bleiben wollte.
Sie sind seit rund 36 Jahren im Orchester. Was sind Ihre herausragenden Erinnerungen?
Zu den Höhepunkten zählen die Musikkontakte von Gerd Albrecht und andere großartige Dirigenten wie Wolfgang Sawallisch, Alberto Zedda, Horst Stein und Giuseppe Patanè oder Giuseppe Sinopoli mit „Rigoletto“, ein Brahms-Requiem im Michel mit Lucia Popp – einfach fantastisch, um nur einiges zu nennen. Die Bassflötenpartie in Aribert Reimanns „Lear“ zählt ebenfalls dazu, „Frau ohne Schatten“ mit Christoph von Dohnányi in Japan 1984 und die Südamerika- und Spanien-Tourneen mit Kent Nagano, für die ich kurzfristig Spanisch lernte. Ich freue mich schon riesig auf die Japan-Tournee im Oktober. Mal sehen, wie gut mein Japanisch bis dahin sein wird... [lacht]
Sie wohnen außerhalb von Hamburg, sind sehr naturverbunden, beschäftigen sich viel mit Tieren. Ist das typisch kanadisch?
Womöglich ist ein bisschen ‚First Nation‘, also Kanadas Ureinwohner, in mir. Barfuß durch Brennnesseln zu laufen im Garten und unsere Tiere samt Bienen sind Erholung und ein guter Ausgleich zu meiner Arbeit. Dadurch, dass mein Mann Tierarzt ist, sind wir oft Auffangstation für Tiere wie dreibeinige Hunde, einen blinden Marder, eine krebskranke Katze aus Griechenland. Einmal trafen sich „Hagen“ und „Siegfried“ – Sänger aus der Oper – im Wartezimmer der Tierarztpraxis meines Mannes mit ihren Tieren. In diesem Fall ging die Begegnung gut aus ... [lacht]
Neben dem Orchesterdienst spielen Sie auch regelmäßig in Ihrer Region...
...ja, das ist eine Herzensangelegenheit und ich mache das mit größter Freude und Dankbarkeit. Jedes Jahr spiele ich an Heiligabend zur Mitternachtsmesse und ich unterstütze mit vielen Benefizkonzerten z. B. ein Wohnprojekt für Menschen mit Behinderung in meinem Wohnort oder eine Schule auf Sri Lanka. Ich unterrichte ehrenamtlich eine junge Frau mit Down-Syndrom. Jedes Frühjahr organisiere ich ein Open-Air-Klassik-Konzert im Klosterpark bei uns und spiele dort mit Orchesterkollegen, wofür ich mich an dieser Stelle unbedingt bedanken möchte, das ist wirklich großartig! Für mich ist das der schönste Beruf oder eher eine Berufung.
Das Gespräch führte Hannes Rathjen
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